Mittwoch, 28. Dezember 2011

Des a r m e n M a n n e s Weihnachtsbaum

http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Ginster_02.JPG

Weihnachtsgeschichten allerorten - I -


Eine Parabel vom Ginsterbusch - von Theodor Fontane:

Theodor Fontane: Des armen Mannes Weihnachtsbaum

London, 24. Dezember

Ich sah heute in den Straßen Londons einen prächtigen Ginsterbusch, nicht als kriegerisches Wahrzeichen wie vordem, sondern als friedlichen Weihnachtsbaum, als schlichteren Ersatz für die schlichte Tanne. Es war in Tottenham-Court-Road, und es begann schon zu dunkeln.


Groß und klein eilte nach Haus, um zu rechter Stunde an rechter Stelle zu sein; alles war Leben, Bewegung, Freude. Unter denen, die ihrer Wohnung zuschritten, war auch ein Arbeiter, ein Mann in der Mitte der Dreißiger, blaß, rußig, ermüdet. Neben ihm ging sein ältestes Kind, ein Knabe von sechs bis sieben Jahren; er schleppte sich mühsam weiter. Das jüngste Kind war auf der linken Schulter des Vaters eingeschlafen, während er auf der rechten einen mächtigen Ginsterbusch als Weihnachtsbaum nach Hause trug. Der Ginsterbusch blühte. Man sieht viel Elend in den Straßen Londons, aber selten eines, in dessen Öde sich zartere Züge mischen, und so blieb ich stehen und sah dem müd und matten Zuge nach. Es war ersichtlich, die Mutter war tot, und dem Vater war die Aufgabe zugefallen, den beiden Kindern ihr Christfest zu bereiten. So war er denn hinausgegangen nach Hampstead-Heath, um auf der weiten winterlichen Heide den Weihnachtsbaum zu finden, den er zu arm war, an der nächsten Straßenecke zu kaufen. Die Kinder hatten ihn begleiten müssen, weil niemand im Hause war, der sich ihrer angenommen hätte. Jetzt kamen sie von ihrem Gange zurück, der Älteste müde, der jüngste eingeschlafen. Was mochte sie daheim empfangen? Welcher Weihnachtsfreude gingen sie entgegen? Ich malte mir das Zimmer des armen Mannes aus: Der Ginsterbusch stand auf dem Tisch, und ein ärmliches Feuer brannte im Kamin; nichts Festliches sonst umher als das Herz seiner Bewohner. Im Widerschein des Feuers aber sah ich die gelben Ginsterblumen wie Weihnachtslichter leuchten, und ihr Blühen war wie die Verheißung eines Frühlings nach Erdenleid und Winterzeit.

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Der Text stammt aus Fontanes Englandaufenthalt von 1855 - 1859. Erstdruck in: Neue Preußische Zeitung. 31.12.1857.

(Aus: Theodor Fontane: Weihnachten mit Fontane. Aufbau-Verlag. Berlin 2000. S. 90f.)

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Ein L i c h t zur Erleuchtung - nein, nicht der Heiden - zur Aufhellung, zur Erfreuung der Menschen in der kleinsten, ärmsten Kammer.

Fontane hat diese Impression auf dem Hintergrund seines christlichen und naturnahen Lichterglaubens von seinen Reisen nach England mitgebracht; er hat diese Symbolik uns hinterlassen; wir brauchen sie nur in unserem Kopf und in unserem Gespräch oder im Arrangement zu aktualisieren.
Jedes Menschen Herz darf Weihnachten gerührt sein, weil wir uns besondere Freude schenken, ob in Geschenken, ob im Gedenken; und auch, weil nach der Wintersonnenwende die Gewissheit des Frühlings ansteht.

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http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Ginster_02.JPG

- Blühende Gisinter ist für die Weihnachts-, also Dezemberzeit nichts Außergewöhnliches an der Südküste Englands, wo der warme Golfstrom auch gelegentlich zu Winterszeiten die Blüte des Ginsters bewirkt.-

Für den abdruck der Parabelerzählung in der Zeitschrift "Religion h e u t e" erarbeitete E r k l ä r u n g e n und F r a g e n und anregungen:

Ich gestehe: Fontane ist mir über: Ginster als kriegerisches Emblem, als naturhaftes, abwehrendes Zeichen, als kämpferisch-widerständiges Signet, als unfriedliches Weiß oder Gelb?

Ich kenne Ginster als wallartig Blühendes, das am Bahndamm hinter dem Bauernhof wuchs, büschel-, reihenweise, kilometerweit am Bahndamm entlang stand und wartete, bis es mein Brüder für den Vater, der daraus Besen band, zurechtschnitten. Zack, ein Hieb mit der Sichel! Und noch viele Hiebe! Und er Ginstervorrat wurde mit Seilen umschnürt und nach Hause geschleppt, in Trockene gestellt, als Besenreiser mussten sie irgendwann ihren Dienst versehen.

Ich suchte und fand im „Lexikon der Symbole“ von Udo Becker (Freiburg u.a.: 2000: Herder Verlag. S. 103):

G i n s t e r: ein strauchartiger Schmetterlingsblüter mit gelben oder weißen Blüten. Der stacheltragende G. ist ein Sinnbild für die Sünde des Menschen, deretwegen dieser seinen Acker voller Dornen oder Disteln bestellen muß; außerdem ist er Symbol für das stellvertretende Leiden Christ (verschiedentlich unter den Marterwerkzeugen dargestellt), damit zugleich aber auch ein Erlösungs-Symbol (wie die Distel). ? Ob zudem in der englischen Kriegs- oder Religionsgeschichte der Ginsterbusch als "kriegerisches Wahrzeichen" eine Funktion hatte, konnte ich nicht ermitteln.


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Arbeitsaufträge (... für wer mag):

Welche Beobachtungen macht Fontane in London, zur Weihnachtszeit?
Welche allgemeinere Bedeutung schreibt er dem Baumsymbol und den Lichtern für die Armen zu?

Zu: Theodor Fontane (1819 - 1898)
Bedeutendster deutscher Dichter des Realismus
URL: http://www.weltchronik.de/bio/cethegus/f/fontane.jpg

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Eine URL, vom schönsten Fontane-Denkmal, in Neuruppin:

http://www.fontaneseite.de/Theodor_Fontane.gif

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