Montag, 16. Januar 2012

Ab - auf die schiefe Bahn ...








Ab - auf die schiefe Bahn...?



- Eine dokumentarische Erzählung -


Freitagmorgen in der Grundschule. Die Wochenplanarbeit in der Klasse 4b geht ihrem Ende zu. Zu Beginn der zweiten Stunde legt das Mädchen P. der Klassenlehrerin Sch. ihr Aufgabenheft vor:

"Dat solln Se lesn, hat Mama gösacht!"

Frau Sch. nimmt das Heft und liest:

"Da Sie ja nicht mit sich redenlassen und Kinder an schönen Dingen des Lebens nicht teilnehmen dürfen ist es auch ihr Verdienst wenn die Kinder resignieren und auf die Schiefe Bahn geraten. Wenn sie gerecht wären würden auch die Kinder eine Strafe aufbekommen die Petzend lauthals in die Klasse rufen. Sie haben selbst zur P. gesagt das sie auf gar keinen fall zu petzen hat.

Frau Sch. muss sich um eine Lerngruppe kümmern, die mit Bilderbüchern und dem Tafellineal Tai Chi spielen.

Dann weiter im krakeligen Text der Mutter.

Da müssen Sie sich nicht wundern wenn P. auch jeden verpetzt.
Ich hoffen Sie ändern ihre Meinung und Einstellung denn es ist das Letzte Jahr wo P. da ist, danach sind Sie sie ja für immer los!!
Ich möchta nicht das Sie die P. vor der ganzen Klasse nochma lächerlich machen sonst muß ich an höchsta Stelle gegen Sie angehen.
(Ohne Unterschrift)


Im Konferenzzimmer wendet die Lehrerin sich an ihren Rektor:
"Herr T., haben Sie mal Lust, das zu lesen?"

Der sieht die Schrift:
"Wieder mal die P. und ihre Mutter?"


Lesepause.

"Und was war vorgefallen, Frau Sch.?"

"Sehen Sie hier die Eintragungen davor. Das war P.s Hausaufgaben für heute. Da hatte ich eintragen: "Schriftliche Sonderaufgabe, da P. beim gemeinsamen Lesen den Text wegpackte und kramte und malte, statt mitzuarbeiten."

Der Rektor blättert noch zurück im Hausaufgabenheftchen:


Er liest die Bemerkungen in der Handschrift der Lehrerin, aus den letzten zwei Wochen:

P. arbeitet zur Zeit im Unterricht schlecht mit.
HA waren unvollständig.
Die Unterschrift unterm Mathetest fehlt.
HA unvollständig.
Das Diktat ist nicht geübt worden. Alle Lernwörter sind nicht gekonnt.
P. hat ihre Deutschsachen nicht mitgebracht.
P. kommt erst zur dritten Stunde. Ich bitte um eine Erklärung.

"Wissen Sie was, Frau Sch.! Sie haben doch schon von dem älteren Sohn dieser Mutter gehört. Der ist vor zwei Jahren in die Sonderschule abgegangen. Da hatte ich die Frau bei mir sitzen; hab' ihr das Verfahren erklärt. Da hat mir die Frau an den Kopf geschmissen: 'Sie verfolgen meinen Sohn! Schlimmer als früher die Juden verfolgt wurden.'

"Mein Gott, so ein Unsinn! Und was haben Sie da gemacht?"

"Ich bin aufgestanden und habe Frau D. aufgefordert, diesen verleumderischen Unsinn zurückzunehmen. Sonst müßte ich sie anzeigen und sie vors Gericht bringen. Dann hab' ich sie gebeten, den Raum zu verlassen. Und hab' ihr noch von der Sekretärin die Telefonnummer vom Schulrat geben lassen. - Wissen Sie was? Die Frau ist dumm, leider; dumm und stolz. Und den Kniest, den sie zu Hause hat, den kann sie nicht verarbeiten. Die hat mal einer anderen Mutter ihre blauen Flecke gezeigt an einem Montag."

"Arme Kinder! Was wird aus denen?"

"Die müssen wohl auf die schiefe Bahn kommen. Ich hab's ja jetzt schriftlich! Man müßte eine Zwangsuntersuchung durch den Psychiatrischen Dienst der Kinderklinik anordnen können."
"Für das Mädchen und ihre Mutter!"


Nachmittags, zu Hause. Frau Schn. erwischt gerade noch Dr. Petra Heider am Telefon, von der hiesigen Ambulanz der Kinder- und Jugendklinik für Psychiatrie, der Außenstelle der Haard-Klinik in M.

"Zwangsweise - meinen Sie, zwangsweise, Frau Sch.? Wie stellen Sie sich das so ruckzuck vor? Haben Sie schon die Bezirksmitarbeiterin des Jugendamtes informiert und mit der beratschlagt?"

Nach einer halben Stunde am heißen Telefonhörer entschließt sich Frau Sch.:
Also am Montag das Jugendamt anrufen; die Bezirkssozialarbeiterin überreden, pardon: motivieren. Sie auf einen Termin festlegen. Sie in die Klasse holen. Den Rektor fragen? Und dann abwarten, ob was passiert? Das halte ich nicht aus!



Noch'n Telefonat, mit ihrer Freundin R., Kollegin an der benachbarten Sonderschule, fünf Minuten Erklärungen und Vorlesen.

Dann die Kollegin: "Das Kind hat doch mehrere Symptome, zähl sie mal zusammen!"

"Was meinst du?"

"Ich hatte hier doch ihren Bruder hier. Ja, das merk' ich doch sogar in Religion und Sport: extrem langsame Reaktionszeit, fehlende soziale Kontakte in der Klasse, extremes Knügeln und Flucht ins Träumen, Unfähigkeit, mit einfachen Anforderungen zurechtzukommen. Misstrauen gegenüber Nähe und Vertrauen. - Und was war noch, hab' ich was vergessen?"

"Genetik, meinst Du?"

"Quatsch, soziale Vererbung! Zwei psychisch kranke Kinder aus einer Familie mit demselben Erbleiden, nein, das geht nicht als medizinische Erklärung!"

"Du denkst an - Missbrauch!"

"Ja, schau Dir mal wieder die Informationsschrift des MAGS an: Was stimmt da nicht? Da steht alles vorformuliert."

„Hier schau: „Gewalt gegen Frauen und sexueller Missbrauch von Kindern“.

"Tschüss dann!"

"Pack's an, Kathrin! Es lohnt sich - für das Blag! Egal, was dabei rumkommt, es kann nur besser werden."


Endlich - Samstag!
Frau Sch. schließt ihre Woche am Schreibtisch ab und verachtet es, an den Montag zu denken.


Dann, knapp vor acht, ab den Fernseher!

Und später, im Traum spielt sie Pädo-Memory:

Begeben Sie sich nicht in das Haus des Lernens. Begeben Sie sich unter keinen Umständen dort hin. Nehmen Sie nicht den beschwerlichen Weg übers Jugendamt! Nehmen Sie stattdessen die monatliche Sofortrente der Glücksspirale von 10.000 DM!

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