Montag, 30. Januar 2012

K r i e g s a n g s t und G o t t e s t r o s t












- Literarisches Stichwort Gott -




Im Westen nichts Neues (1929)

Tröstung der Betrübten (Mt 5,4 )


Zwei Texte

„Ach Gott, was ist mir schon heilig; - so was wechselt ja schnell bei uns.“
(Paul Bäumer, ein Fronturlauber, gegenüber der Mutter eines getöteten Kameraden)

Ein Antikriegsroman - ein humanes Beispiel der Nächstenliebe
(Aus: Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues")

Paul Bäumer, 18 Jahre, hat die ersten Monate an der Westfront überlebt. Er hat erfahren, realisiert und sucht zu verarbeiten, was es heißt, als Mensch zu fühlen und zu denken - und als Tier kämpfen, d.h. töten zu müssen - oder selber zu krepieren - weil andere ihn umbringen müssen....


Immer schwerer werden die Tage, die Augen meiner Mutter immer trauriger. Noch vier Tage. Ich muß zu Kemmerichs Mutter gehen.

Man kann das nicht niederschreiben. Diese bebende, schluchzende Frau, die mich schüttelt und mich anschreit: „Weshalb lebst du denn, wenn er tot ist!«, die mich mit Tränen überströmt und ruft: »Weshalb seid ihr überhaupt da, Kinder, wie ihr «, die in einen Stuhl sinkt und weint: »Hast du ihn gesehen? Hast du ihn noch gesehen? Wie starb er?«
Ich sage ihr, daß er einen Schuß ins Herz erhalten hat und gleich tot war. Sie sieht mich an, sie zweifelt: »Du lügst. Ich weiß es besser. Ich habe gefühlt, wie schwer er gestorben ist. Ich habe seine Stimme gehört, seine Angst habe ich nachts gespürt, sag die Wahrheit, ich will es wissen, ich muß es wissen.«
»Nein«, sage ich, »ich war neben ihm. Er war sofort tot. «
Sie bittet mich leise: »Sag es mir. Du mußt es. Ich weiß, du willst mich damit trösten, aber siehst du nicht, daß du mich schlimmer quälst, als wenn du die Wahrheit sagst? Ich kann die Ungewißheit nicht ertragen, sag mir, wie es war, und wenn es noch so furchtbar ist. Es ist immer noch besser, als was ich sonst denken muß.«
Ich werde es nie sagen, eher kann sie aus mir Hackfleisch machen. Ich bemitleide sie, aber sie kommt mir auch ein wenig dumm vor. Sie soll sich doch zufrieden geben, Kemmerich bleibt tot, ob sie es weiß oder nicht. Wenn man so viele Tote gesehen hat, kann man so viel Schmerz um einen einzigen nicht mehr recht begreifen. So sage ich etwas ungeduldig: »Er war sofort tot. Er hat es gar nicht gefühlt. Sein Gesicht war ganz ruhig.«
Sie schweigt. Dann fragt sie langsam: »Kannst du das beschwören?«
„Ja.“
„Bei allem, was dir heilig ist?“
Ach Gott, was ist mir schon heilig; so was wechselt ja schnell bei uns.
„Ja, er war sofort tot.«
„Willst du selbst nicht wiederkommen, wenn es nicht wahr ist?«
»Ich will nicht wiederkommen, wenn er nicht sofort tot war. «
Ich würde noch wer weiß was auf mich nehmen. Aber sie scheint mir zu glauben. Sie stöhnt und weint lange. Ich soll erzählen, wie es war, und erfinde eine Geschichte, an die ich jetzt beinahe selbst glaube.
Als ich gehe, küßt sie mich und schenkt mir ein Bild von ihm. Er lehnt darauf in seiner Rekrutenuniform an einem runden Tisch, dessen Beine aus ungeschälten Birkenästen bestehen. Dahinter ist ein Wald gemalt als Kulisse. Auf dem Tisch steht ein Bierseidel.

Die Bergpredigt als theologische Edikt bestimmte nicht Remarques Autoren-Bewußtsein, als er diese Passagen schrieb: Aber sie war ihm aus der Kinder- und Schulzeit ein geistiger Hintergrund; und sie kann nicht nur auf einem Berg in Galiläa gelten, nicht auf den Predigtstühlen oder vor den schön gestalteten Amben in kirchlichen, aufgeputzten Räumen
Soldat Bäumer und seinen vielen versehrten Kameraden steckt die religiöse Verantwortung für Freunde, für Eltern und Geschwistern im Kopf - Mitleidende einer militärisch besinnungslos geopferten Generation. Den zutiefst geschockten jungen Leuten stecken diese Pflichten im Bewußtsein, ohne daß hier pastorale Verantwortung oder Betreuung vorliegt :
„Selig die Trauernden, denn sie werden getröstet werden.“ (Mt 5,4 )
So unternehmen sie - was in der Apostelgeschichte (Apg 6,1f.) seine urkommunistische Ordnung erfährt: die Fürsorge für Menschen, die in ihrem Leid, in ihrer Not, in ihrer Hilflosigkeit „übersehen“ wurden.
Die Spenden der Gemeindemitglieder wurden bei den Agape-Szenen gereicht. Um so wichtiger war, daß hier alles in Liebe geschah mit dem Ziel, jedem einzelnen , auch den armen und Witwen eine Heimat zu bereiten.
Kein Kaiser, kein Papst, kein Priester, kein Lehrer hat sie darauf vorbereitet, von den Eltern haben sie den Anstand und das Mitleid erfahren, daß sie mitleiden können. So blieb ihr guter Wille, auch ihre Bereitschaft aus Mitleid zu lügen das Einzige, einer Kameradenmutter zu helfen...

Bäumer seufzt: „Ach Gott, was ist mir schon heilig; - so was wechselt ja schnell bei uns.“
Heilig? Heiliges? Heiligkeit? Heilige einer der Kirchen in Deutschland, dem Kaiserreich? Die Kirche - die protestantische Staatskirche des Hohenzollernreiches - soll ich sie zitieren mit ihrem „heiligen“ Kriegsaufruf, ihren Kaiseradorationen, ihren völkerverachtenden Aufrufen, ihren dummen, unchristlichen Phrasen, vergessend des höchsten Gebotes der Feindesliebe? Als alle Kapitalisten - selbst die Bürger, die Beamten, die Kleinhändler, die die Reichsmark, wenn nicht gar den Pfennig - sorgsam umdrehen mußten, Kriegsanleihen zeichnen wollten - als heiliges Unterpfand eines glänzenden Sieges und herrlicher Gewinne...

Einen Vorspruch haben 1929 (im zehnten Jahr nach dem ersten Völkerschlachten des 20. Jh.s) Remarque und sein Verlag dem Buch mit auf den Weg durch alle großen Sprachen der Welt gegeben:

Dieses Buch soll (nach der Aussage Remarques) weder eine Anklage noch ein Bekenntis sein. Es soll nur den Versuch machen, über eine Generation zu berichten, die vom Kriege zerstört wurde - auch wenn sie seinen Granaten entkam.

Gemeint war, daß der Roman keine politische Propaganda sein sollte, kein parteipolitische Kriegsabrechnung, keine Verzweiflungstaktik in die junge Republik schwemmen sollte. Aber der Roman leistete mehr: er war ein Abbild des Krieges, ein Wahrbuch der menschenverachtenden Kriegsgewalt; es war ein psychologisches Buch der humanen Wissenschaft, der Kunde vom Leben und der Verantwortung der Verbrecher, ob in kaiserlichen Schlössern, in den Palais der Generalität oder in den Köpfen der Unteroffiziere. „Himmelstoß“ - selten ist ein Namen onomatopoetisch wirkungsvoller als Menschenverächter und Jugendtöter, als ideologischer Mörder entlarvt worden, als Heiligen-Knecht, als sich heilig schwätzende Menschenverächter.
Indirekt ist der berühmteste deutsche Anti-Kriegsroman ein Loblied auf die deutschen Soldaten, weil sie sich als Menschen und Kameraden ehrenhaft erwiesen, also auch ein kleines, verzweifeltes Loblied auf den Mitkämpfer, wahrhaftig keine Ruhmeshymne auf Gott, König und Vaterland. Sie kämpfen nicht für die Nation, wozu die unheiligen Lügner, Täuscher und Verräter sie vorgeblich erzogen und ausbauen, aber sie kämpften - gezwungermaßen und aussichtslos für den märtyrerhaft duldenden, standhaften, den nicht rebellierenden Frontkameraden.
Das Kapitel endet, wie ein Urlaub endet, mit der Nähe des erwarteten Todes auf den Schlachtfeldern:

Es ist der letzte Abend zu Hause. Alle sind schweigsam. Ich gehe früh zu Bett, ich fasse die Kissen an, ich drücke sie an mich und lege den Kopf hinein. Wer weiß, ob ich je wieder so in einem Federbett liegen werde!
Meine Mutter kommt spät noch in mein Zimmer. Sie glaubt, daß ich schlafe, und ich stelle mich auch so. Zu sprechen, wach miteinander zu sein, ist zu schwer.
Sie sitzt fast bis zum Morgen, obschon sie Schmerzen hat und sich manchmal krümmt. Endlich kann ich es nicht mehr aushalten, ich tue, als erwachte ich.
»Geh schlafen, Mutter, du erkältest dich hier.«
Sie sagt: »Schlafen kann ich noch genug später.«
Ich richte mich auf. »Es geht ja nicht sofort ins Feld, Mutter. Ich muß doch erst vier Wochen ins Barackenlager. Von dort komme ich vielleicht einen Sonntag noch herüber.«
Sie schweigt. Dann fragt sie leise: »Fürchtest du dich sehr?«
„Nein, Mutter.“

*
Es ist nicht die letzte Lüge derer, die ihre Menschenpflicht tun, in diesem bitteren und wahrhaftigen Roman! Nicht die letzte Lüge, die der Leser als Lüge, als unheilige Gewalt, entlarven kann in diesem Weltroman.
(Textauszüge aus: Erich Maria Remarque: Im Westen nichts Neues. (Zuerst 1929). Roman. Köln 1984: kiwi-TB 50. S. 165ff.)

* ~ *

Ein unwillentliches Zeugnis der schriftstellerischen Kraft und humanistischen Wirksamkeit des Romans lieferte ein Feind Remarques, gerade in seiner Heimatstadt Osnabrück, im Jahre 1930:

Ein gelehrter Mensch, ein Professor. Kurt Schultze-Jena verfaßte für den "Stadt-Wächter" (vom 2.12.1930) Schmähgedicht „ An Erich Maria Remarque“, ein gereimtes und metrisch stolzierendes Textlein, ein mieses Zeitdokument.

Du hast des Krieges hehre Flammenzeichen wohl nicht verspürt,
Du hast in dumpfer Qual mit Deinesgleichen nur vegetiert!
Dir zeigte dieses Krieges Eisenhammer nur ein Gesicht:
Du sahst nur Schwäche, Feigheit, Schmutz u. Jammer, das Edle nicht!
Für deutschen Todesmut und Opferwillen blieb taub Dein Sinn,
Dir schien des Lebens heißer Durst zu stillen allen Gewinn!
Du schmücktest selbst Dich mit dem äußern Zeichen von Heldentum.
Und willst für unsre toten Brüder zeugen, die längst schon stumm?
Berühre nicht, Remarque, mit frevlem Finger der Toten Kranz!
Du warst und bist armseligster Verkünder der Decandence:
Dir fehlt zum Künder jener großen Tage aus Stahl und Erz,
Was schlicht in unserer Toten Brust geschlagen: Das tapfre Herz!
*
(Aus: E.M.R.: Im Westen nichts Neues. Interpretiert von Peter Bekes. München 1998: Oldenbourg Verlag. S. 136)


* ~ *

Zur Biographie des Autors:

Erich Maria Remarque wurde 1898 in Osnabrück geboren und wuchs im westfälisch-orthodox-katholischen Milieu auf; 1916, als Rekrut eingezogen und mehrfach an der Westfront verwundet, überlebte er schließlich nach einer Lazarettbehandlung. Nach dem Krieg ließ er sich als Lehrer ausbilden und unterrichtete kurze Zeit (vgl. dazu den wichtigen Schulroman „Der Weg zurück“, 1930). Aufsehen in der gesamten Welt erregte er mit dem Roman „Im Westen nichts Neues“ (1929), der nicht aus ideologischem, sondern aus human-pazifistischem Impuls geschrieben war und unmittelbar Empathie und Solidarität mit der geschundenen, betrogenen Jugend eines imperialen-militaristischen Volkes erweckte. R. siedelte schon 1931 in die Schweiz um, in realistischer Einschätzung der faschistischen Unkultur in seinem Vaterland. Neben vielen Unterhaltungsromanen sind seine wichtigsten die beiden frühen Bücher, die auch heute noch lebendig und sprachlich überzeugend sind.

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Weiterführende Fragen zum Text und zum Thema (entommendem Schul-Arbeitsmaterial dieses Artikels:

1. Wie verstehen Sie die Bemühungen des jungen Soldaten bei der Mutter seines gemordeten Kameraden?

2. Informieren Sie sich über heutige pazifistische, an den Menschenrechten orientierte Friedensbewegungen! Kennen Sie auch aus den kirchlichen Milieus solche Bestrebungen?

3. Welche Autoren und Initiativen bemühen sich - insbesondere in Konfliktbereichen - um Friedensstiftung aus dem Geiste der Bergpredigt?

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