Sonntag, 13. Oktober 2013

Traum von einem neuen Bau

AStRey: Traum von einem Haus









Vorn in der weiten Apsis:
Sängerinnen und Sänger treten aus der Sakristei.

Ein großer Chor stellt sich auf.

Weltberühmte Stimmen, perlende Choräle fließen von sanften Lippen. Frauen in langen, schwarzen Röcken und weißen, bis zur Hüfte fallenden Chorhemden mit weit schwingenden, pludrigen Rochett-Ärmeln, den steifen Gewändern über ihren stählernen Leibern und den blechbewehrten Schienbeinen. Dirigiert wurden sie von einem strenggesichtigen, weißhaarigen Mönch, dessen Takte aus den beschatteten Augen fließn.

Zwischen den sich rhythmisch wiegenden Sängerinnen kriecht hin und her ein Junge, ein flinker Knirps. Er wird nicht bemerkt. Jedenfalls nimmt keine Sängerin Notiz von ihm.
Hier tut sich ihm eine kleine Gasse auf, dort schließt sich die Reihe hinter ihm. Das Kerlchen ist immer gerade hindurchgehuscht. In den schwingenden Wellen des Gesanges findet das Kind Platz, sich frei zu bewegen. Es rudert mit den Armen, spielt Sausebrause und Brummbrumm. Umkreist seelenruhig die Frauen, die hehr singen und ihre Oberkörper wiegen und ihre Köpfe.
Ohne Beachtung durch Gekrauche: Ein Laib Brot liegt auf einer Stufe, Milch im Becher daneben steht.

Einmal setzt es sich hin, holt Zündhölzer aus seinem Jäckchen, entzündet hastig und ungelenk ein Feuerchen, das rasch, weil unbemerkt von dem Kantor und seinen Frauen, hochschlägt, die Kleider und die Menschen leibhaftig erfaßt, alles verbrennen will.
Die Flammen ziehen hoch, als wollten sie in den Himmel aufsteigen. Fensterscheiben platzen, Altar, Gestühl, Kanzel knacken, knarren, stöhnen ob ihrer tollkühnen Trockenheit Feuer.
Die Kirche wird im vorderen Teil von glühend heilig brünstig steigenden Flammen, einem Heer von stichelnden Zungen, niedergemacht.
Das Chor, der Altarraum, die Kanzel, als feste Burg gebaut, brennen nieder, bevor noch die Feuerwehrhauptleute Feuer rufen können. Das vordere Langhaus des einschiffigen, himmelhohen Kirchenraumes glüht platzend und berstend aus, versinkt in brodelnd-stiebender Asche, Stunde für Stunde.
Die Nachbrunst vollzieht sich in würdevoll-ruhigem Geprassel von pfingstflämmchenkleinem Züngeln. Stille dann. Und Entsetzen in aller Augen.

Der rückwärtige, nach Westen gelegene Schiffstrakt der Kirche ist durch ein Wunder unversehrt geblieben, die Mauern stehen klaffend, ungeschützt vor Wind und Wetter und den Objektiven der Kameras dieses unseres Landes, der verstörte Kirchenraum liegt offen und bloß.

Wohlgetane Jahre gehen ins Ländchen, bis fleißige Menschen, Freunde, Herbeigerufene aus den umliegenden Dörfern, den näheren Städten und freien Bauernhöfen kommen und sich begeben an die Arbeit und die mißtrauisch beobachteten Mühen. Sie planen, zeichnen, sägen, mauern, hämmern, schütten Beton, setzen rote, niederrheinische Backklinker, black-rote; ziehen geborstene Stützpfeiler hoch, verputzen und rüsten das Dach ein, setzen Blitzableiter. Die erhalten gebliebene Kirche mit Portal und Orgelwerk auf der Empore wird rekonstruiert und gereinigt; Etagen, Treppenhäuser, kleingroße Papierkörbe aus nichtentflammbarem Polytheol werden eingezogen. Viele Menschen beziehen jubelnd-schweigend die neue Wohnburg, die Kirchen-Feste: Alte und Unverheiratete, Kinderreiche und Alleinerziehende, Arbeitslose und Psychotiker, Querulanten und Aphasiker, ein wunderlich gemischtes Völkchen besiedelt die restaurierte Kirche.

Doch die Menschen verstummen noch am ersten Tag. Sie sehen von den Decken herabhängende Ohren, sensibel kleine Ohrmuscheln. Die fingerdicken Nervenkabel verlaufen durch die Decken ins jeweils nächste Stockwerk.
Die Menschlein machen scheu ihre Kreuzzeichen und sagen ihren Kindern: Wir müssen froh sein. Hier wohnen zu dürfen!

Ein waches Mädchen mit rotstoppligem Haar begibt sich in der sonnig-stillen Mittagsstunde eines Sommertages auf die Suche nach einem Spielfreund.
Es gelangt über Treppen, Vorbauten, unverschlossene Türchen und verschnörkelte Wendelgitter, durch einen staubig versponnen Kriechgang in einen hoch unter dem Dach eingerichteten Rundum-Raum.

Als sie am Abend, nach ruhigem Schlaf, schreiend hier oben erwacht und sich im Dunkel nicht mehr hinuntertraut, wird sie spät in den letzten Dämmerminuten gesucht.

Geduckt, aus Äuglein lauernd, betritt, mutig suchend, die Mutter des Mädchens den Raum. Sie richtet sich auf, ruft ihr Kind, stürzt ihm entgegen, es drängen die Nachfolgenden hinzu. Sie treten ein, staunend schauen sie sich um und finden den Raum leer und öd.

In diesem Augenblick, so erzählen die Väter sich später bei Bier, Butterbrot und Prasseln, fallen von den Decken die an langen Sehnen hängenden Lauscherohren herab.

Am Wochenende darauf feiern sie ihr Fest, essen und trinken heiter.
„Wie Gott in Deutschland, hier auf der Gaensewiese“, murmelt ein Gast.
Er erstarrt. blickt dem weisen Herrn, der das brutzelnde Feuer umrundet, ins Gesicht. Geht auf ihn zu, stellt sich vor.
Und sagt:"Herr Heinrich. Nehmen Sie Ihr Koppel ab". Er hält die Pause aus. "Oder, Herr Heinrich, es ist ein Band von Ihrem Herzen, das darnieder lag. - - Was spüren Sie, Herr Heinrich?"
"Haben Sie mich verstanden?" - - "Hilfe!" - "Ist hier ein Arzt?" - "Hallo!?









Herr Heinrich als Lenker auf der Hochzeitskutsche seiner Herrin
- Briefmarke der Deutschen Bundespost (1966) -

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